Erich Blechschmidt. Abbilder

„Ein menschlicher Embryo hat so viel Anmut, dass der Unvoreingenommene ihn staunend bewundern muss.“ Erich Blechschmidt im Vorwort zu „Vom Ei zum Embryo“, 1968

His-Ziegler-Modelle, Embryo A aus der Modellserie „Anatomie menschlicher Embryonen“, Anatomisches Institut, Göttingen, 1880/85. Foto: Hans-Georg Sydow.

Staunen, Irritation, Unbehagen? Die Modelle menschlicher Embryonen lösen sehr vielfältige Reaktionen aus. Wie sie entstanden sind und welche wissenschaftliche Bedeutung sie hatten, erklärt Ihnen Hannah Menne am Internationalen Museumstag. Die Doktorandin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin führt sie am Sonntag, 19. Mai 2019, um 13.30 Uhr durch die Humanembryologische Sammlung Blechschmidt. Ihrer Spurensuche können Sie aber schon jetzt folgen.

Eine Einführung

Die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens scheint so alt zu sein, wie die Menschheit selbst. Schon der griechische Philosoph Aristoteles untersuchte im 4. Jahrhundert v. Chr. Hühnereier in verschiedenen Stadien, um so eine Idee von der Entstehung des Organismus zu bekommen. Denker und Macher aus Medizin, Anatomie, Philosophie, Theologie und bildender Kunst befassten sich über die Jahrtausende hinweg kontinuierlich mit dem frühen Menschsein. Und doch blieben Aussagen und Bilder lange Zeit mystisch und symbolisch: Das Ungeborene war in erster Linie auch das Unsichtbare.

Heute sind Bilder menschlicher Embryonen quasi überall. Wir sehen sie in Zeitungen, in der Werbung, in Kliniken, Klassenzimmern, in Familienalben, auf Zigarettenschachteln, im Fernsehen und im Internet. In Debatten über Abtreibung, Früherkennung, Klonen, künstliche Befruchtung oder Menschenrechte werden diese Bilder bisweilen zum Werkzeug und Argument. Das ursprünglich Verborgene wurde Alltag – wir neigen inzwischen dazu, das Bild des Ungeborenen als selbstverständlich zu betrachten.

Blick in den Sammlungsraum, um 1960, Archiv der Sammlung Blechschmidt. Fotograf unbekannt.

# Blechschmidt will’s wissen?

Da verspricht ein Besuch der Humanembryologischen Dokumentationssammlung Blechschmidt zunächst nicht viel Neues. Die insgesamt 61 großformatigen Kunststoffmodelle, die heute im Untergeschoss des Zentrums für Anatomie der Universität Göttingen öffentlich präsentiert werden, sind Rekonstruktionen menschlicher Embryonen und ausgewählter Organe unterschiedlicher Entwicklungsstadien. Chronologisch aufgereiht dokumentieren sie die menschliche Frühentwicklung. Sie dokumentieren zugleich das Lebenswerk des Göttinger Anatomen Erich Blechschmidt (1904 – 1992), der als Direktor des Instituts über einen Zeitraum von fast 30 Jahren viele hundert Embryonen sammelte und histologische Schnittserien fertigte.

Links: Erich Blechschmidt mit anatomischen Präparat, um 1948, Archiv der Sammlung Blechschmidt. Rechts: Plastische Rekonstruktion: Modellvorstufe, um 1960, Sammlung Voit.

Als ich das erste Mal zwischen den Vitrinen stehe, bin ich aber dann in erster Linie eines: irritiert und befremdet. Im Angesicht der Repliken sehe ich mich mit unzähligen Widersprüchen konfrontiert. Sie sind Allgegenwärtiges und zugleich so Unzugängliches. Sie sind offenkundig menschlich und zugleich absurd und irreal. Sie haben ihren Ursprung in totem Material und stehen zugleich für den Innbegriff des Lebens. Ihre Herstellung knüpft an frühere wissenschaftliche Methoden und Theorien an und ist zugleich höchst innovativ. Sie porträtieren den Inbegriff des Ursprünglichen, Natürlichen und sind doch höchst konstruiert und künstlich.

Die von Erich Blechschmidt in seinen zahlreichen Publikationen versprochene augenscheinliche Erkenntnis bleibt bei mir jedenfalls aus.

Auf Spurensuche

Ist diese Mannigfaltigkeit – ja, Ambivalenz– der Arbeiten Blechschmidts der Weg, sich dem Thema angemessen zu nähern? Vielleicht ist ja genau die Mehrdeutigkeit das Besondere der Sammlung?

Ich spreche mit Medizinethikern. Sie machen die Darstellung des frühen Menschen zur Diskussionsgrundlage um Rechte des Kindes, der Mutter, um Menschenrechte und Individualität.

Ich spreche mit Sozialwissenschaftlerinnen, Vertreterinnen der neuen Frauenbewegung. Sie sehen in den Visualisierungstechniken die Gefahr einer Degradierung der Schwangeren zum überwachungs- und beratungsbedürftigen Brutkasten eines autonomen Wesens, dem Embryo.

Ich spreche mit Wissenschaftshistorikern. Sie betrachten und untersuchen die Repliken daraufhin, ob wissenschaftliche Erkenntnis und Lehre an die Herstellung solcher Bilder gebunden ist.

Ich spreche mit Anatomen. Sie interessieren sich für das medizinische Konzept, welches hinter dieser Dokumentation steht. Erich Blechschmidt vertrat offenkundig eine Anatomie, die Prozesse und Zusammenhänge in den Mittelpunkt der Forschung rückt. Damit kehrte er sich von der klassischen Anatomie Vesals (1514 – 1564) ab, der Erkenntnis in der immer feineren Zergliederung und statischen Analyse des Leichnams gesucht hatte.

Modellraum als Kreuzgang? 2018. Foto: Dr. Michael Markert.

Ich spreche mit Kunsthistorikern. Sie vergleichen diese Gesamtschau menschlicher Frühentwicklung mit einem reziproken Kreuzgang. Die Embryonen der Sammlung präsentieren sich darin als Opfer, hingegeben für die resultierende Botschaft vom Wert des Lebens.

Ich spreche mit Alternativmedizinern, Osteopathen. Die an Blechschmidts Modellen nachvollziehbaren Entwicklungsbewegungen dienen ihnen als Erklärungsansatz für spätere Zusammenhänge, Wirkmechanismen und Interferenzen im menschlichen Körper.

Ich spreche mit Abtreibungsgegnern. Sie finden in Blechschmidts Ausführungen den Beleg für die menschliche Eigenart und Individualität schon mit dem Zeitpunkt der Befruchtung einer Eizelle. „Mensch von Anfang an“ – daraus lässt sich das Schutzbedürfnis des Embryos zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung ableiten.

Ich spreche mit Ingenieuren. Sie interessieren sich für die aufwendigen Techniken zur Herstellung der Repliken. Zwischen millimeterfeinen histologischen Schnittserien über exakt vergrößerte Wachsmatrizen hin zum plastischen Modell aus stabilem Kunststoff liegt ein monatelanger und speziell für diesen Zweck entwickelter Arbeitsprozess.

Ich spreche mit Hebammen. Ich spreche mit Schülern. Ich spreche mit meinem Großvater, spreche mit der Reinigungskraft, spreche mit Kommilitonen und ich spreche mit Leuten, die sich ganz versehentlich ins Untergeschoss der Anatomie verirrt haben. Sie alle scheinen auf irgendeine Art und Weise beeindruckt. Ein buntes Potpourri an Eindrücken ist das: Die Wirkung der Sammlung ist in jedem Fall höchst individuell, immer anders. So erkennt jeder Besucher etwas (anderes) in diesen riesigen Totalrekonstruktionen: Widersprüchliches, Groteskes, Abschreckendes, Anrührendes. Und vermutlich erkennt er dabei aber immer auch einen Teil von sich selbst. Genau das macht dieses Moment von Irritation und Befremden aus.

Umzeichnungen einer modellierten Schnittserie, um 1960, Archiv der Sammlung Blechschmidt.

Die Ausstellung: ein Spiegelkabinett?

Ein Blick auf die Arbeiten Blechschmidts ist viel mehr als anatomische Abhandlung. Die Antworten, die sie geben, sind Antworten auf die Fragen, die man an sie richtet. Damit eröffnet die Ausstellung zugleich Perspektiven auf uns, unsere Gesellschaft, ihre Auffassungen, Überzeugungen, Denkweisen und Zusammenhänge.

Ob die Humanembryologische Dokumentationssammlung Blechschmidt uns ganz unmittelbar, unmissverständlich, instinktiv die Mechanismen und Prinzipien menschlicher Ontogenese nachvollziehen lässt, wie ihr Schöpfer das immer so nachdrücklich hochhielt, das sei einmal dahingestellt. Lernen und erfahren können wir bei einem Besuch dennoch eine ganze Menge. Als Provokateur von Diskussion und Austausch lehrt die Sammlung vor allem viel über die Menschen, mit denen wir sie gemeinsam besuchen.

Hannah Menne

 

 

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