Handle with care! Sensible Objekte in den universitären Sammlungen Göttingens

In universitären Sammlungen finden sich viele Objekte, deren Einbindung in Forschung und Lehre oder deren Präsentation in einer Ausstellung oder im Netz ein besonderes Taktgefühl verlangen. Für solche Sammlungsgegenstände hat sich der Begriff „sensible Objekte“ etabliert. In der gleichnamigen Blog-Reihe berichten wir ab sofort darüber, wie wir in unterschiedlichen Sammlungen und Projekten mit diesen Objekte umgehen.

Aus der Blechschmidt-Sammlung: Präperate menschlicher Embryonen, die als Schnittserien auf Glasplatten aufgezogen und auf Pappplatten angeordnet wurden.

Was sind sensible Objekte?

Wir betrachten Objekte als sensibel, wenn es sich um menschliche Überreste oder sakrale Objekte handelt, oder wenn ihr Erwerb und Transfer in eine Sammlung nach heutigem Verständnis unrechtmäßig war. Darunter fallen etwa Kunstgegenstände, die während der NS-Diktatur durch Enteignung, Raub oder erzwungenen Verkauf den Besitzer wechselten. Aber auch wissenschaftliche Objekte, die im Zuge der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert von Reisenden, Forschern, Händlern oder Kolonialbeamten nach Europa gebracht wurden, können als sensibel betrachtet werden. Neben ethnografischen Objekten und menschlichen Präparaten gelangten auch Messdaten, Körperbeschreibungen, Fotografien oder Gipsabgüsse, die von lebenden Personen angefertigt wurden, an europäische Museen und Universitäten – häufig ohne die Kenntnis oder gar Zustimmung der betroffenen Personen.

Sensible Objekte in den Göttinger Sammlungen

In Göttingen betrifft das nicht nur Sammlungen, die menschliche Überreste enthalten, wie etwa die Blechschmidt-Sammlung menschlicher Embryos, die Blumenbachsche Schädelsammlung mit rund 840 Objekten oder die Anthropologische Sammlung, deren Grundstock ein umfangreiches Konvolut menschlicher Schädel aus dem Hamburger Völkermuseum bildet. Auch viele ethnologische oder naturkundliche Objekte, die in einem kolonialen Kontext gesammelt und nach Göttingen gebracht wurden, sind heute Bestandteil der zoologischen, botanischen oder ethnologischen Sammlungen.

Sammlungspotal ohne Objektabbildung

Bewusste Leerstele im Sammlungsportal: Nicht jedes Objekt bilden wir im Netz ab.

Alle Formen der Auseinandersetzung mit sensiblen Objekten sind hierbei betroffen: Ausstellungen und Sammlungspraktiken, die Darstellung im Netz, zum Beispiel im Göttinger Sammlungsportal, sowie der Einsatz in Forschung und Lehre. Auch in der Planung der Basisausstellung für das Forum Wissen fragen wir, auf welche Weise wir sensible Objekte präsentieren und in die Ausstellung integrieren können.

In allen Fällen werfen sensible Objekte ethische Fragen auf, die nach sorgfältiger Prüfung der Erwerbsbedingungen von Objekten jeweils im Einzelfall entschieden werden müssen: Wie und in welcher Weise kann oder darf mit sensiblen Objekten geforscht und gelehrt werden? Dürfen sensible Objekte ausgestellt, und in welcher Form können sie gezeigt werden? Was soll mit sensiblen Objekten geschehen, wenn sie nicht ausgestellt werden und nicht mit ihnen gearbeitet wird?

Ein „heikles Erbe“, das viele Museen beschäftigt

Natürlich ist Göttingen nicht der einzige Ort, an dem man sich mit Objekten zweifelhafter Herkunft beschäftigt. Viele Museen und Forschungseinrichtungen machen ihr „heikles“ oder „schwieriges Erbe“ inzwischen zum Thema (so die Titel eines aktuellen Forschungsprojekts der Universität Tübingen in Kooperation mit dem Stuttgarter Linden-Museum und einer Ausstellung im Landesmuseum Hannover im Jahr 2017). Das Land Niedersachsen verfügt zudem mit dem Netzwerk Provenienzforschung über eine Einrichtung, die zu einer nachhaltigen Etablierung der Erforschung sensibler Objekte in den Sammlungen und Museen Niedersachsens beitragen soll. Vor allem die Debatten um das Berliner Humboldt-Forum (geführt zum Beispiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), in dem zukünftig die außereuropäischen Sammlungen Berlins ausgestellt werden sollen, machen den großen Bedarf an einer kritischen Auseinandersetzung mit den Herkunftskontexten und Ausstellungsweisen sensibler Objekte deutlich.

Karteikarte zu einem Schädel, der als Teil eines Konvoluts menschlicher Überreste in den 1950er Jahren vom Hamburger Völkerkundemuseum in die Anthropologische Sammlung nach Göttingen kam.

Mit Rückgabeforderungen indigener Gruppen konfrontiert, wurden vor allem im englischsprachigen Kontext seit den 2000er Jahren allgemeine Standards zum Umgang mit sensiblen Objekten und den Bedingungen ihrer Rückgabe formuliert. Seit 2013 existieren auch im deutschsprachigen Kontext mit den „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ des Deutschen Museumbunds entsprechende Richtlinien. Doch während die Museen zunehmend gegenüber solchen Fragen ein Problembewusstsein entwickelt haben, stehen viele universitäre Sammlungen noch ganz am Anfang. Einen wichtigen ersten Beitrag dazu leistet ein kürzlich erschienener Sammelband, der aus der Perspektive unterschiedlicher universitärer Sammlungen und Museen das Thema systematisch bespricht.

Die Blog-Reihe „Sensible Objekte“

Die Blog-Reihe wird als eine Plattform dienen, um unterschiedliche Perspektiven aus den Göttinger Sammlungen und dem Forum Wissen auf sensible Objekte und Sammlungen zu bündeln. Dabei soll es nicht darum gehen, definitive Lösungen für den „richtigen“ Umgang mit sensiblen Objekten zu finden. Wir wollen vor allem die Diskussion darüber in Gang zu bringen und am Laufen halten. Den Aufschlag macht in wenigen Wochen Michael Markert, der sich momentan in einem zweijährigen Forschungsprojekt mit der Provenienz von Objekten in der Humanembryologischen Blechschmidt-Sammlung beschäftigt. In regelmäßigen Abständen werden dann Kustodinnen und Kustoden sowie Studierende aus ihrer Sicht über die Arbeit mit sensiblen Objekten berichten. Schließlich ergänzen wir die Reihe um Beiträge, die sich im Hinblick auf das Forum Wissen mit diesem Thema beschäftigen.

3 Kommentare

  1. Dr. Gabriele Gaba Weis

    Mich freut es, dass dieses Themenfeld, was schon bei der Jubiläumsausstellung „Dinge des Wissens“ 2012 thematisiert worden ist, weiter verfolgt wird … nur frage ich mich, ob der obige Text zu früh online ging, da er unfertig wirkt.

  2. Ganz wichtiges Thema, das der gerade erschienene Sammelband „Nicht nur Raubkunst! Sensible Dinge in Museen und universitären Sammlungen“ (2018, hg. von Anne Brandstetter und Vera Hierholzer) erstmals systematisch in den Blick nimmt. Vergleichend und transdisziplinär gehen die Beiträge der Frage nach einem angemessenen Umgang mit Sensiblen Dingen nach.

    Anna-Maria Brandstetter & Vera Hierholzer: Sensible Dinge. Eine Einführung in Debatten und Herausforderung, S. 12-13:
    „Auch wenn die Bewertung als sensibel kaum zu verallgemeinern ist und vom einzelnen Objekt abhängt, sind sich die meisten Forscher*innen darin einig, dass zwischen zwei Dimensionen von Sensibilität unterschieden werden kann. Zum einen können Dinge „an sich“ sensibel sein – aufgrund ihrer Materialität, ihrer Aussagen oder Bedeutungszuschreibungen. An erster Stelle sind hier Objekte zu nennen, die Subjekte gewesen sind, d.^h. Human Remains wie Schädel und Knochen, Haut- und Haarproben und Präparate oder kulturelle Artefakte, die sterbliche Überreste enthalten. Sensibel sind auch religiöse oder rituelle Objekte, allen voran die secret/sacred objects der First Australians, die nicht öffentlich gezeigt oder gesehen werden sollen. Und schließlich können zu dieser Gruppe auch Sammlungsstücke gezählt werden, deren Aussagen und Inhalte problematischer Natur sind, weil sie die Rechte Dritter verletzen, zum Beispiel Propagandamaterial aus Unrechtsregimen mit rassistischem Inhalt oder Dinge, die in zweifelhaften Kontexten verwendet wurden, etwa Instrumente und Objekte, die in der kolonialen Rasseforschung Einsatz fanden.
    Zum anderen werden Objekte als sensibel kategorisiert, bei denen die Umstände des Erwerbs, der Herkunft, der Herstellung und der Aneignung bis hin zur Musealisierung fragwürdig sind. Dazu gehören Kulturgüter, die im Zuge der Expansion Europas seit dem 15. Jahrhundert von europäischen Reisenden, Forschern, Händlern, Militärs und Kolonialbeamten in Sammlungen und Museen in Europa verbracht wurden, vielfach als Raub- oder Beutegüter unter Anwendung von Gewalt, wie der eingangs erwähnte Gedenkkopf aus Benin. Zu nennen sind weiter Sammlungsobjekte, die in der Zeit des Dritten Reichs durch Enteignungen, Raub und erzwungene Verkäufe die Besitzer wechselten. Museen und Universitäten profitierten vielfach von den durch die Nationalsozialisten geschaffenen Zugriffsmöglichkeiten. In diesen und weiteren Unrechts- und Gewaltkontexten wurden neben den bereits genannten Human Remains zudem Messdaten, Körperbeschreibungen, Zeichnungen, Fotografien, Gipsabgüsse, Film- und Tondokumente von lebenden Menschen gesammelt, die oft in Zwangssituationen hergestellt wurden. Als Sensible Objekte werden zudem Kunstwerke und Kulturgüter bezeichnet, die z.^B. im Rahmen von Raubgrabungen illegal außer Landes gebracht wurden. Die Raubgrabungen und der illegale Handel mit Antiken haben gerade in der jüngsten Zeit mit den Plünderungen durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) große Aufmerksamkeit erfahren. Aber auch für viele archäologische Kulturgüter, die schon seit Langem Bestandteil musealer und universitärer Sammlungen in Deutschland sind, lässt sich nicht immer mit Bestimmtheit sagen, wie sie hierherkamen.“

    Und es gibt dazu auch den wichtigen Blog von Sarah Fründt: Museum und Verantwortung: sensible Objekte in Museen und wissenschaftlichen Sammlungen > https://sensmus.hypotheses.org/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.